Der Regisseur Bastian Reiber im Interview mit Bastian Lomsché.
Bastian Lomsché: Nach Passionsspiele am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Prometheus an der Schaubühne Berlin wendest du dich in deiner dritten Regiearbeit dem nächsten großen Stoff, der Odyssee zu. Was interessiert dich an dieser Art von Geschichten?
Bastian Reiber: Mich interessierte bei allen drei Arbeiten, in diese Stoffe oder Sagen hineinzuzoomen, auf eine ganz bestimmte Stelle der Geschichte, auf ein Fragment und dieses dann zu erforschen. Bei der Odyssee im Speziellen interessierte mich, dass Penelope, während sie auf Odysseus‘ Rückkehr – oder die Nachricht seines Todes – wartet, für ihren Schwiegervater Laertes ein Leichentuch webt. Vor ihrer Tür warten Freier, die sie heiraten und somit den Thron besteigen wollen. Die Abmachung ist, dass sie sich einen unter ihnen aussuchen muss, sobald das Leichentuch fertig ist. Penelope webt also tagsüber und trennt es nachts wieder auf. Sie betreibt ein Zeitspiel, ein so tun als ob. Man kann sagen, sie vermeidet das Eigentliche, hält es fern, kreist drum herum. Das finde ich als Theaterform spannend.
BL: Bei den Passionsspielen blieb der eiserne Vorhang auf halber Höhe stehen, bei Prometheus wussten die Menschen weder mit sich noch mit ihrer Schöpfung etwas anzufangen. Nun lautet der Titel des Stückes Odyssee. Buch von Homer, die Abenteuer des Odysseus spielen an diesem Abend allerdings keine Rolle. Was interessiert dich an diesem Spiel mit Erwartungen?
BR: Es geht darum, dass man sich als Produktion durch beispielsweise einen Titel ein riesiges Ei legt und nun versuchen muss, aus einer Defensive heraus den Abend zu retten. Man behauptet: Jetzt kommt etwas Großes!, und allen ist schnell klar, dass da überhaupt nichts kommt. Das ist der komödiantische Fakt an der Sache. Nun muss man auf der Bühne richtig rudern und strampeln, damit es trotzdem ein Theaterabend wird. Das kann wunderschön sein und ist für mich wirklich spannend, weil es einen zurückwirft auf die Fragen: Was ist denn eigentlich ein Theaterabend? Was berechtigt etwas dazu, ein Theaterabend zu sein? Die Frage, ob etwas reicht, ist in dieser Produktion immer präsent und eine komödiantische. Wir müssen von Beginn an retten, was wir uns selbst eingebrockt haben – und zwar für die Zuschauer:innen, nicht gegen sie. Ich hoffe und wünsche mir, dass das als Geschenk verstanden werden kann, das wir den Zuschauer:innen bereiten wollen. Natürlich führen wir sie zunächst auf die falsche Fährte, aber dann versuchen wir es ja wieder gut zu machen (lacht). Wir versuchen das, was wir versaut haben, wieder gerade zu biegen.
BL: Welche Rolle spielt Angst in deiner Arbeit? Welche Humor?
BR: Angst spielt insofern eine Rolle, weil es um Mut geht. Ich habe das Gefühl, dass es von Seiten der Spieler:innen und allen Beteiligten großen Mut verlangt, sich darauf einzulassen, mit der Leere umzugehen. Wo Mut ist, ist auch Angst im Spiel, das sind klassische Gegenspieler. Im Grunde geht es immer um eine Bekämpfung der Angst. Ein bisschen wie das Gefühl, dass man eine Mathearbeit schreiben muss und nichts, gar nichts dafür gelernt hat. Oder wie der Albtraum aller Schauspieler:innen: Du kommst auf die Bühne und weißt nicht, welches Stück gespielt wird. Oder irgendetwas geht schief. Oder, wie in dieser Arbeit: der Titelheld kommt einfach nicht. Das ist pure Angst und die Grundsituation dieses Abends. Damit müssen wir permanent umgehen und daraus schöpfen wir die Kraft und sagen: Wir bekämpfen jetzt diese Angst und zwar nicht mit Verbissenheit und nicht mit Kraft, sondern wir versuchen, sie mit Witz, mit Leichtigkeit zu umgehen, auszutricksen.
BL: In diesem Programmheft gibt es einen Textauszug von Hans-Georg Gadamer über die Zusammenhänge von Kunst und Spiel (S. 26–27). Verkürzt sagt er, dass die Selbstauferlegung von Regeln im an sich zwecklosen Spiel – so, „als ob da Zwecke wären“ - Zeichen von Menschlichkeit und Vernunft sind. Ich meine darin viel wiederzuentdecken, was dein Theater ausmacht.
BR: Der Ausdruck des „zweckbefreiten Spiels“ berührt mich sofort, ich finde ihn sofort stimmig. Weil es meiner Meinung nach genau darum geht: Absichtsloser zu werden. Zweckbefreit bedeutet für mich erstmal, dass man niemandem etwas erklären will. Dass man nicht sagt: Wir machen jetzt das, damit das passiert. Oder: Ich spiele das jetzt so, damit ihr das und das versteht und deshalb euer Leben ändert. Das ist wirklich überhaupt nicht unser Anliegen. Erstmal will man nur zeigen, dass man selbst keine Ahnung hat. Dass vielleicht das Spiel um des Spieles Willen eine Lösung sein kann, vielleicht sogar ein Lebensentwurf. Durch den Rahmen, die Regeln, kann überhaupt erst wirkliches Spiel entstehen. Spiel, das etwas anderes ist als Sport oder Wettkampf, weil es im Grunde komplett sinnlos erscheint, ohne offensichtliche tiefere Bedeutung. Dabei hat es natürlich die größte tiefere Bedeutung, wenn man sagt, das Spiel ist eine Form von Leben. Oder Rettung. Wenn man auf der Bühne versucht, einen eigentlich sinnbefreiten Vorgang wahnsinnig genau zu machen, zum Beispiel mit den Armen schwingen, hat diese Akkuratesse der Sinnlosigkeit wahnsinniges Gewicht.
BL: Dir war es für deine Interpretation der Odyssee wichtig, eine Befreiung der Mägde zu erzählen, während ihr Ende bei Homer grausam ist: Zwölf von ihnen werden gehängt, weil ihr Handeln von Odysseus als Verrat betrachtet wird.
BR: Mir persönlich gefällt Kunst erst einmal viel besser, die utopisch und eher dem Leben zugewandt ist als dem Tod. Nun berufen wir uns natürlich auf eine Geschichte, in der diese grausamen Dinge geschehen und es hat absolute Bewandtnis, das zu erzählen. Ich, ganz persönlich, hätte aber keine Lust, das Drama der Mägde, wie es Homer oder, noch viel interessanter, Margret Atwood in Penelope und die zwölf Mägde beschreiben, auf die Bühne zu bringen. Das können andere viel besser. Wir biegen mit unserer Inszenierung in eine andere Geschichte ab, erzählen einen, wenn man so möchte, alternativen Verlauf, ein neues Ende. Ein Ende der Befreiung der Mägde.
BL: Glaubst du, dass das als Verharmlosung aufgefasst werden könnte?
BR: Wir erzählen eine neue Geschichte, ohne die alte zu überschreiben oder ihr etwas streitig machen zu wollen. In diesem Sinne verharmlosen wir auch nicht. Wir erzählen zwar nicht, dass jemand stirbt, aber wir gehen trotzdem mit Themen wie Leere, Nichts, Angst um. Und das ist auf der Ebene des Spiels und des Spielens meines Erachtens nach überhaupt nicht harmlos.
BL: Zum ersten Mal spielst du in einer Inszenierung, bei der du Regie führst, nicht selbst mit. Wie geht es dir damit?
BR: Bisher ganz gut. Ich bin bei meinen früheren Inszenierungen aber auch immer erst zur zweiten Hauptprobe mit auf die Bühne gegangen, weil ich mich vorher so geschämt habe. Den Unterschied werde ich wahrscheinlich erst am Premierenabend spüren, wenn man nichts mehr ausrichten kann.