Bastian Lomsché im Interview mit Charly Hübner über Krieg und Frieden, Lew Tolstoi, den „Dritten Raum“ und sein Regiedebüt.
Bastian Lomsché (BL): Warum heute Krieg und Frieden?
Charly Hübner (CH): Weil das Thema ein Ewiges zu sein scheint, auch wenn wir hier in Mitteleuropa vor einigen Jahren vielleicht ein anderes Gefühl hatten. Tolstoi bietet einen riesigen Text an, an dem man sich interpretativ, oder historisch, oder auch philosophisch aufladen kann. Ein super Angebot für eine Theaterarbeit. Er erzählt in alle Richtungen, mit allen Mitteln, die ihm zu seiner Zeit zur Verfügung standen. Das gibt uns die Freiheit, uns das zu nehmen, was wir brauchen und das wegzulassen, was uns in Tolstois Zeit verhaftet scheint oder den Rahmen sprengen würde.
BL: Du hast dich während der letzten eineinhalb Jahre sehr intensiv mit dem Stoff beschäftigt. Wie hat sich dein Blick darauf und auf Tolstoi verändert?
CH: Ich bin zunächst mit einer, ich nenne das mal: untersuchenden Wachheit, durch den Stoff gegangen und war von der Vielfalt der literarischen Mittel beeindruckt. Worüber ich erst stolperte, was mich dann aber nachhaltig beeindruckte, war die Situation, aus der heraus Tolstoi angefangen hat zu schreiben. Nach allem, was man finden und lesen kann, schien er in einer Art sehr dunkler Niedergeschlagenheit gewesen zu sein. Heutzutage würde man das vielleicht Depression nennen. Die Eindrücke aus dem Kaukasuskrieg und Krimkrieg, in denen er als Soldat war, haben ihn das Miteinander der Menschen in Frage stellen lassen. Er wurde zum radikalen Pazifisten und die Akribie und überbordende Schreibwut, mit der er sich an diesem großen philosophischen Thema abgearbeitet hat, auch die in weiten Teilen des Romans satirische Tonart, waren sein Versuch des Umgangs damit. Das war zur damaligen Zeit neu. Krieg und Frieden ist keine naturalistische Zurschaustellung einer wirklichen Welt. Es ist bissig, wie Figuren gesetzt werden, wie über Figuren gesprochen wird, wie Figuren über Menschen sprechen. Und neben großer Bitterkeit stecken bei Tolstoi immer die Fragen dahinter: Wieso sind Menschen so miteinander? Wieso werden sie so miteinander? Das war mir in der Konsequenz und in dem Übermaß zu-nächst nicht klar.
BL: Deine Prämisse war: Wir erzählen diesen Stoff in Magdeburg und für Magdeburg.
CH: Ich wusste nicht viel über Magdeburg. Was ich wusste, war, dass Magdeburg durch mehrere Kriege zum Teil komplett zerstört wurde und damit eine sehr kriegserfahrene Stadt ist. Magdeburg war mehrfach besetzt, auch in der Zeit der napoleonischen Kriege, acht Jahre lang. Die Stadt war eine der größten Festungsstädte Europas, gelegen an der Elbe, die für die Bedeutung Mitteleuropas riesig ist. Es ist der Fluss, wo West- und Osteuropa aufeinandertreffen und mittendrin liegt Magdeburg. Auf einer Assoziationsebene – und die interessiert uns im Theater natürlich besonders – waren diese Umstände ausschlaggebend dafür, die Geschichte, die wir erzählen wollen, in Magdeburg zu verankern. Wir haben dann einen Schwank geschrieben, der Tolstoi bzw. Schimmelpfennig rahmt und erzählen – volkstheatrig, satirisch, überspitzt – eine Familie, die vom Hier und Jetzt aus und gemeinsam mit dem Publikum in eine Vergangenheitsbetrachtung geschickt wird. Unser Versuch ist es auch, die Debatten, die wir im Angesicht des Angriffskrieges auf die Ukraine und der aktuellen Weltlage tagtäglich medial und miteinander führen, in die Inszenierung einfließen zu lassen. Es interessiert mich sehr, wie das Magdeburger Publikum darauf reagiert.
BL: Das Stück von Roland Schimmelpfennig wurde 2008/2009 geschrieben und damit nicht nur in politisch völlig anderen Zeiten, auch das Theater hat sich stark verändert. Wie bist du damit umgegangen?
CH: Ich wollte erst einmal verstehen, aus welcher Idee heraus Roland Schimmelpfennig die Fassung damals geschrieben hatte. Man muss dazu wissen, dass das die Zeit seiner engen Zusammenarbeit mit Jürgen Gosch war. Die Fassung war für das Burgtheater in Wien gedacht, kam dort aber nie zur Aufführung. Deshalb können wir nun hier die Uraufführung machen. Die Spielanordnung bei Roland ist, dass Angehörige einer großbürgerlichen Gesellschaft, denen es sehr gut zu gehen scheint, an einer großen Tafel in einem Ballsaal zusammenkommen und sich noch einmal daran erinnern, dass es einmal so etwas wie einen Wechsel zwischen Krieg und Frieden gab. Es werden spielerisch noch einmal verschiedene Situationen durchgegangen, die „telenovelahaften“ Liebesbögen ebenso wie die Schlachtbetrachtungen, die Roland als sehr große, tolle Chöre geschrieben hat. Durch die Annexion der Krim 2014 und den Überfall auf die Ukraine 2022 durch Russland ist das Thema Krieg und damit auch der Frieden als „Zeit zwischen Kriegen“, wieder viel näher an eine mitteleuropäische Bürgerschaft herangerückt. Ich habe Roland gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn wir aus diesen Gründen mit seiner Fassung freier umgehen. Es kam von seiner Seite sofort und ohne Hadern und Diskussion: „Natürlich muss die Bearbeitung heute eine andere sein“. Für diese Möglichkeit sind wir ihm sehr dankbar.
BL: Von der Titelauswahl bis zur Premiere wurde unsere Arbeit beeinflusst von der realpolitischen Situation um den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und, spätestens seit der Wahl von Donald Trump, durch die sich rapide verändernde politische Weltlage. Wie hat das deine Arbeit beeinflusst?
CH: Es war zwischenzeitlich ein großes Auf- und Ab. Die Entscheidung für Krieg und Frieden ist im Herbst 2022 gefallen. Wir hatten die Idee, mit den Mitteln des Theaters einen Raum zu öffnen abseits einer bipolaren Berichterstattung. Ein Raum, in dem man seelisch und künstlerisch in eine Betrachtung des Stoffes kommen kann, ohne sofort eine Haltung aufgrund der gegenwärtigen Situation einnehmen zu müssen. Das erschien uns fast nicht mehr möglich. Deshalb stand zwischenzeitlich sogar im Raum, sich für einen anderen Stoff zu entscheiden. Wir haben mehrmals die Woche telefoniert und die realpolitische Situation war oft schon wieder eine andere als drei Tage zuvor. Ich fand es dann irgendwann als Teil des Prozesses gut, genau das – und auch den Druck, der daraus entstand –, mit in die Inszenierung hineinzunehmen, das auf der Bühne zu spiegeln. Wir arbeiten mit verschiedensten Ästhetiken, haben viele Eindrücke einfließen lassen, unterschiedliche Erlebniswelten erarbeitet, von sehr lustig bis grauenhaft bis tief traurig und brutal. Das wurde der bestimmende Weg dieser Arbeit. Wir werden bei der Premiere sehen, wo wir gelandet sind. Als Erfahrung ist das aber schon jetzt mit das Intensivste, was ich in meiner Arbeit bisher erleben durfte.
BL: Welche Rolle kann oder sollte die Kunst deines Erachtens einnehmen dieser Tage?
CH: Ach, da gibt es kein Paradigma. Für mich ist der „Dritte Raum“, so nenne ich das, also der „Raum der Betrachtung“, der entscheidende. Ein Raum, der den Druck der Wirklichkeit kurz mal rausnimmt und ein Spielraum ist, ein Assoziationsraum zu Erholung von dem, was da draußen wirklich los ist. Um diesen zu ermöglichen sind meines Erachtens Künstler:innen, aber z. B. auch Journalist:innen da: Ereignisse in diesen Raum hineinzuspielen, um sie dort zu befragen, für sich selbst und für das Publikum, die Leser:innen, usw. Das verstehe ich darunter, was Shakespeare in Hamlet mit „Spiegel der Gesellschaft“ meint. Es geht nicht darum, der Gesellschaft den Spiegel nur vorzuhalten, sondern darum, dass das, was wir in der Kunst tun, in die Wirklichkeit zurückspielt und im besten Fall erreicht, dass jemand das eigene Handeln wieder neu betrachten kann oder will. Das ist natürlich sehr idealistisch und fast teenagerhaft gedacht, aber es ist eine Empfindung, die in mir wirklich existiert und die auch Hoffnung macht. Die Geschichte hat gezeigt, dass dadurch Pfade gelegt wurden, die in der Wirklichkeit Veränderungen bewirkt haben.
BL: Es ist deine erste Theater-Regie: Hast du es dir so vorgestellt? Was hat sich bestätigt, was hat dich überrascht?
CH: Ich hatte nicht wirklich eine Erwartung. Ich hatte gehofft, dass ich mit den Schauspieler:innen gut zusammenkomme und dass es ein Theaterabend wird, der ein eigenes inneres Wesen hat. Jetzt, eine Woche vor der Premiere, habe ich den Eindruck, dass das gelingen könnte. Regie – das ist im Film das Gleiche – ist eine Arbeit, die es schaffen muss, alle Kräfte zu bündeln auf einen Punkt hin. Beim Film ist das das Set und später der Schnitt, im Theater die Probe und später die Eigenständigkeit der Aufführung, also dass sie durch die Kräfte der Spieler:innen und der Crew läuft. Es ist toll, dass man sich mit Hilfe des Assoziierens und Spielens den Fragen stellen kann, die uns im Alltag permanent begegnen. Das ist das Aufregende am Regie-Job: mit allen zusammen die tausenden Eindrücke, die sich ansammeln, zu einem Zerrbild zu bündeln, das dann eine Aufführung ergibt.
BL: Was nimmst du mit aus Magdeburg und von dieser Arbeit?
CH: Ich nehme mit, dass es wichtig und toll ist, in solchen Städten Theater zu machen, das sein Publikum findet und das sich mit der Stadt verbindet. Aus der Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden nehme ich mit, dass das Leben größer ist, als man denkt und es gut ist, dass es sowas wie Kunst, Theater, Musik, Malerei gibt und das Leben nicht einfach nur so an einem vorbeirauscht.