EUGEN ENGEL – EINE SPURENSUCHE

Wann beginnt eine Geschichte und wie endet sie? Im Falle der Oper »Grete Minde« von Eugen Engel scheint der glückliche Ausgang klar: Am 13. Februar 2022 wird das einzige Musiktheaterwerk des Komponisten im Magdeburger Opernhaus uraufgeführt. Doch wann entstand die Oper? Wer war ihr Komponist? Begeben wir uns auf eine Spurensuche.

Im Sommer 2019 erhielt Magdeburgs GMD Anna Skryleva die Anfrage eines Berliner Bekannten. Er hatte über Umwege die Kopie des Klavierauszuges einer noch nie aufgeführten Oper erhalten. Ob sie sich das einmal anschauen könne, ob das vielleicht etwas für Magdeburg wäre? Sie setzte sich ans Klavier, spielte verschiedene Abschnitte durch – und war begeistert: Eine Oper im spätromantischen Gewand, die alles hat, was ein spannender Musiktheaterabend braucht! Auch Intendantin Karen Stone war von dieser »Ausgrabung« schnell überzeugt. Schließlich handelt es sich um einen bekannten literarischen Stoff des Schriftstellers Theodor Fontane, der auch noch unweit von Magdeburg spielt, in Tangermünde. Stone und Skryleva beschlossen, mehr herauszufinden und mit den Erben des Urhebers über eine mögliche Uraufführung zu verhandeln.

Dem Klavierauszug war ein doppelseitiger DIN-A4-Zettel zum Komponisten beigelegt: Eugen Engel, geboren am 19. September 1875 im ostpreußischen Widminnen, ermordet am 26. März 1943 im Vernichtungslager Sobibor. Die biografische Skizze, die das Leben des jüdischen Kaufmanns und Komponisten Engel und seiner Tochter Eva Lowen beschreibt, wurde von der Stolperstein-Initiative Berlin-Mitte zusammengestellt, um die Verlegung von zweien dieser Gedenksteine vor Eugen Engels letzter Berliner Wohnung in der Charlottenstraße 74/75 vorzubereiten.

Für ihre Recherche griffen die Mitarbeiterinnen der Initiative auch auf ein kleines Dokumentenkonvolut im Archiv des Jüdischen Museums Berlin zurück. Dort werden seit 2012 u. a. Geburts- und Sterbeurkunden von Eugen Engel sowie letzte Rotkreuz- Nachrichten bewahrt, die Engel 1943 aus dem niederländischen Deportationslager Westerbork – er war 1939 zu seiner verheirateten Tochter nach Amsterdam gezogen – an seine Tochter in den USA versenden konnte. Denn dorthin waren Eva und ihr Mann Max Löwenberger, die ihren Namen in Lowen anglisierten, noch rechtzeitig entkommen.

Sie hatten in ihre neue Heimat etwas mitnehmen können – einen Koffer mit den Partituren ihres Vaters bzw. Schwiegervaters: einige Lieder, wenige Chorsätze, ein Streichquartett und eine Oper. Dieser Koffer stand in den nächsten Jahrzehnten stellvertretend für die furchtbaren Erlebnisse der Shoah. Gegenüber ihren Kindern Charles und Janice sprach Eva nie über den Koffer und seinen Inhalt. Alle wussten, dass er da war, aber erst Jahre nach dem Tod ihrer Mutter 2006 wagten sich die beiden daran, ihn zu öffnen und sich damit der Vergangenheit ihrer Familie zu stellen.

Sie fanden neben den Partituren Dokumente und Briefe, geschrieben in deutscher Handschrift, schwer zu lesen und für sie unverständlich. Mit Hilfe einer deutschen Gast-Professorin der örtlichen Universität konnten sie vieles entdecken: die Korrespondenz ihres Großvaters mit Größen des Berliner Musiklebens in den 1920er und 1930er Jahren (u. a. den Dirigenten Bruno Walter und Leo Blech sowie dem Komponisten Engelbert Humperdinck), lange persönliche Briefe des Vaters an seine Tochter in die USA und auch Dokumente über die letztlich gescheiterte Emigration Engels 1941 nach Kuba. Einiges davon vermachten sie dem Jüdischen Museum in Berlin, Eugen Engels geliebtem

Lebensmittelpunkt. Vieles aber erschien ihnen zu persönlich, die Konfrontation damit zu schmerzhaft, um es systematisch auswerten zu lassen. Deshalb bleibt aus heutiger Sicht noch einiges ungewiss: Wann komponierte Engel sein Opus magnum »Grete Minde« genau? Wie kam er in Kontakt zum Librettisten Hans Bodenstedt, der sich nach 1933 als überzeugter Nationalsozialist zeigte? Gab es konkrete Pläne zu einer Aufführung? Schließlich ließ Engel sogar noch einen Klavierauszug anfertigen.

In den nächsten Wochen wird sich vielleicht noch dieses oder jenes Detail klären lassen. Aber ichtiger als das Durchforsten eines düsteren Kofferinhalts ist Engels Nachkommen, dass das musikalische Werk wieder zum Leben erweckt wird: Enkelin Janice, mittlerweile auch schon über 70 Jahre alt, organisierte einen Liederabend in ihrer Stadt, trat in Kontakt zum Rektor der Berliner Musikhochschule »Hanns Eisler« (die in unmittelbarer Nähe zu Engels Wohnung in der Charlottenstraße liegt) und freut sich nun mit ihrem Bruder darauf, im Februar 2022 nach Magdeburg reisen zu können. Zweieinhalb Jahre nach dem ersten persönlichen Treffen Karen Stones mit Engels Enkeln und Urenkeln anlässlich

der Stolpersteinverlegung in Berlin wird Eugen Engel in seinem Heimatland endlich auch auf der Opernbühne ein wenig Wiedergutmachung zuteil.

Und wie wird die Geschichte nach der Uraufführung weitergehen? GMD Anna Skryleva hält ihre Opernentdeckung für absolut repertoirefähig. Welches weitere Leben der Oper aber wirklich bevorsteht, das entscheidet die Theater- und Opernöffentlichkeit!

 

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