Die schweigende Mehrheit
Bastian Lomsché im Interview mit Saša Stanišić über Erinnerungen an Ferienlager, passive Täterschaft und engagiertes Mitgestalten.
Bastian Lomsché: Ferienlager könnte man als eine Art Nadelöhr beschreiben, durch das die meisten auf dem Weg vom Kindes- zum Erwachsenendasein hindurchmüssen. Die Erinnerungen dabei fallen sicherlich extrem unterschiedlich aus. Gänzlich ohne Spuren verlaufen diese Reisen aber wohl in den seltensten Fällen. Wie ist dein Verhältnis zu Ferienlagern? Gibt es Spätfolgen? Und was zeichnet ein Ferienlager als literarischen Ort aus?
Saša Stanišić: Abenteuer, aber auch Angst davor, Kameradschaft, aber auch Sozialstress auf kleinstem Raum, Natur, aber auch Zeckenbisse, und vor allem vielleicht das Wichtigste: sich fernab von Zuhause und von üblichen Abläufen bewähren, etwas aushalten, etwas schaffen gemeinsam mit anderen. Im Nachhinein ist vor allem auch dieses Oszillieren zwischen „gut“ und „schlecht“ eine spannende Bewegung und Beweggrund für Geschichten – die besten finden ja genau zwischen den Polen statt, in der Gefühlsambivalenz zwischen Freude und Angst und Lust und Überforderung. Für mich selbst sind vor allem Geschichten als Spätfolgen geblieben: Erinnerungen daran, wie wir mal einen von uns in einem Schrank versteckt hatten in einer Jugendherberge im Schwarzwald und die Lehrer nicht wussten, wo der ist und schier panisch wurden. Daran, wie wir für unser Alter viel zu lange Strecken paddelten, weinten und so unfassbar stolz waren, anzukommen und dankbar. Oder wie ich das allererste, von der Schule organisierte „Schullandheim“ verpassen musste, weil sich meine Eltern die Kosten nicht leisten konnten. Und so meinen später besten Freund kennenlernte, der ebenfalls zurückblieb – weil das eben verbindet: etwas Geiles verpassen.
Bastian Lomsché: Mobbing ist ein zentrales Thema in Wolf. Was interessiert dich daran?
Saša Stanišić: Das Thema beschäftigt mich seit langem. Während meiner Schulzeit in Heidelberg wurde einem Mitschüler das Leben sehr schwer gemacht und ich bekam davon immer wieder mal etwas mit, tat aber nichts dagegen, stand dem Opfer nie zur Seite. Diese sogenannte passive Täterschaft hat mich nie wirklich losgelassen. Im Studium fand ich heraus, dass Mobbing im Schulkontext sehr stark verbreitet ist, und die Situation hat sich bis heute nicht wirklich verbessert – jährlich sind an weiterführenden Schulen in Deutschland etwa eine halbe Million Kinder über einen längeren Zeitraum von Gewalt ihrer Mitschüler:innen betroffen. Ich fand wenig wirklich gute nicht-wissenschaftliche Literatur dazu und habe auch selbst ohne Erfolg in der Vergangenheit versucht, etwas in dem Kontext zu schreiben. Der Denkfehler dabei war, dass ich entweder einen Täter oder das Opfer als Erzähler wählte – ich musste Vieles recherchieren und Vieles erfinden, da ich nie in deren Haut gesteckt habe. Ich scheiterte also daran, Gefühle und Gedanken zu so einem komplexen Sachverhalt zu imaginieren. Erst als ich den Erzähler mir ähnlich machte, wurde das Ergebnis auch authentischer – mein Interesse lag schließlich eindeutig in der Schilderung der schweigenden Mehrheit bei Mobbing.
Bastian Lomsché: Was konntest du in der Arbeit an dem Roman über Mobbing erfahren?
Saša Stanišić: Früher dachte ich, dass das breite, kaum fassbare Spektrum der Gründe, warum jemand Opfer wird, mehrheitlich jene trifft, die aus der Mehrheit rausfallen – weil sie irgendwelchen Vorstellungen vom Dazugehören und Standards nicht entsprechen, ob das nun das Aussehen ist oder die Herkunft. Überraschend für mich war dann, dass sehr viele Gemobbte überhaupt nicht wissen, warum sie gemobbt werden. Und wenn ich an das mir bekannte Opfer von damals denke – auch bei ihm gab es, meines Wissens, keinen „Grund“ für die Aggressionen. Und diese Auslöser-Beliebigkeit für das Quälen, die Machtspiele, die Missgunst etc., die war neu für mich. Ich hatte also indirekt angenommen, es müsse ja Gründe geben – es müsse also irgendwie am Opfer selbst liegen –, dass jemand gemobbt wird. Das ist aber völlig hanebüchen und nun eine der Kernbotschaften von Wolf: Es liegt nicht an dir.
Bastian Lomsché: Ein Sprichwort sagt: „Mut ist das Einzige, das man nicht vortäuschen kann.“ Wie schafft es Kemi, mutig zu sein, was können wir davon lernen und was bedeutet Mut für dein Schreiben?
Saša Stanišić: Kemi glaubt, dass die Täter auch ihm etwas antun würden, wenn er dem eigentlichen Opfer, Jörg, beistehen sollte. Also tut er erst mal nichts. Erst als seine Angst um Jörgs Wohlbefinden, also wörtlich um dessen Leben, stärker wird als die Angst vor den Übergriffen gegen sich selbst, handelt er. Er findet also zu sich und damit zum Mut, weil ihn eine wirklich schlimme Ahnung lenkt. Das ist eigentlich fast zu spät. Mutig sollte man viel früher sein, agieren und reagieren schon bei ersten Anzeichen von Mobbing, sich Kompliz:innen suchen, um den Schwachen zu helfen, Erwachsene informieren etc. Und diese Möglichkeiten geht Kemi auch durch, allerdings nur theoretisch. Meine Hoffnung ist, dass die Theorie aber von jugendlichen Leser:innen meines Buchs als Anleitung für die Praxis gesehen wird. Mut beim Schreiben ist aber auch genau das: Dinge benennen, die nicht gut laufen, bevor es zu spät ist.
Bastian Lomsché: Kemi zieht sich lange auf die Position des süffisant, manchmal zynisch kommentierenden Außenstehenden zurück, der sich an seinen klugen Gedanken zur Welt und seiner Redegewandtheit ergötzt, bis sein Heraushalten zum Teil des Problems wird. Lässt sich daraus und im Angesicht von Klimawandel, Rechtsruck und weiterer Katastrophen eine Kritik an unserer „Kunst- und Kultur-Bubble“ ableiten? Wie bekämpft man (künstlerisch) die eigenen Komfortzonen?
Saša Stanišić: Zum einen nicht für das einverstandene Publikum allein schreiben/spielen. Es ist schön und gut, wenn wir die ansprechen, die ohnehin Bescheid wissen und selbst vielleicht auch gegen diese Probleme kämpfen, Solidarität ist wesentlich, Lautstärke auch, Präsenz. Aber unsere Arbeit wird erst dann fruchtbar, davon bin ich überzeugt, wenn wir aus dem eigenen Saft rausköcheln und jene erreichen, die eben nicht unbedingt die Buchkäufer:innen sind und nicht ein Kulturabo haben. Wenn wir an Schulen kommen in sogenannten Problemvierteln, wenn wir Wege finden, Theater zu spielen mit und für jene, die nicht ins Theater gehen, wenn wir also niederschwelliger und aktiver in die Welt hinaustreten, die nicht die eigene ist.
Bastian Lomsché: Kemi, der zu Beginn des Ferienlagers „Bäume nur als Schrank“ gut findet, könnte sich am Ende der Woche, inspiriert durch die Försterin Beate, sogar vorstellen, sein Leben dem Kampf um den Wald zu widmen (zumindest, so lang einige Komfortstandards gewährleistet sind). Hand aufs Herz: Hast du Hoffnung, dass uns die jungen Menschen den Arsch retten? Und wie können wir sie dafür inspirieren?
Saša Stanišić: Wenn ich die Aktionen der jungen Generation heutzutage sehe, dann denke ich nicht, dass die jungen Menschen uns überhaupt zur Inspiration brauchen. Sie brauchen uns vielmehr an ihrer Seite – als aktive Mitgestalter:innen der Proteste, als Ermöglicher:innen neuer und radikalerer politischer Wege und engagierte Gestalter:innen in der Kunst. Kemi ist also eher ein besonderer junger Mensch, indem er diese merkwürdige Abneigung gegenüber der Natur entwickelt hat. Und Beate eine besondere ältere Frau, die das beim Namen nennt, was sie ankotzt. Die schlichtweg und zu Recht einfach sauer ist auf Großindustrie, Politik, Kapitalismus und den ganzen anderen Mist.
Bastian Lomsché: Wolf spart in meinen Augen die typischen dramaturgischen Extrempunkte einer Jugend- oder Abenteuererzählung aus. Besonders deutlich wird das in der Szene im Klettergarten, einer Art Höhepunkt der Geschichte: Das Mobbingopfer Jörg und der Mobber Marco müssen ein Team bilden, das sich gegenseitig sichern soll. Die denkbar gefährlichste, spannendste Situation – von der wir nie erfahren, wie sie abläuft. Zusammen mit Kemi werden wir weggeschickt. Was geschieht, bleibt eine Leerestelle, ein schwarzes Loch, in das man alles Mögliche hineininterpretieren kann und doch nicht schlauer wird. Fies von dir, aber hier kannst du es ja erzählen: Was ist im Klettergarten passiert?
Saša Stanišić: Ich war leider auch nicht dabei ☹.
Bastian Lomsché: Als Autor und „Vater“ einer Geschichte siehst du bei einer Theaterpremiere dein Werk von anderen Menschen und mit ganz anderen Mitteln erzählt. Für dich eher ein schöner oder ein schwieriger Moment?
Saša Stanišić: Schön, weil ich Kunstmachen als etwas verstehe, das ein bestenfalls unendlicher Prozess ist – in der Weiterentwicklung einer Idee, in der Verlagerung in ein anderes Medium, im Sampeln, im Widerspruch, im Remix. Und wie schön das ist, wenn das eigene Spiel mit Wörtern und Geschichten zum lebendigen Spiel wird mit Körpern und Bühne! Schwierig, weil ich natürlich will, dass der Text, der nun Bühnentext ist, gelingt – für alle nun Beteiligten, ein Teamgedanke –, und ich aber darauf so wenig Einfluss habe.
Bastian Lomsché: Du hast schon einige literarische Genres beackert, ein Drama war meines Wissens noch nicht dabei. Reizt dich das?
Saša Stanišić: Doch, doch, ich habe schon mal einen reinen Theatertext geschrieben! Ein Puppenspiel mit Tom Kühnel und Suse Wächter, eine Auftragsarbeit für das Schauspielhaus Graz. Das war eine Art Musical mit Puppen und Freud und Rock’n’Roll und Österreich. Anarchie pur. Und dann gibt es da noch eine andere Geschichte über vier alte Menschen in einem Altenheim. Die kam noch nie auf eine Bühne. Vielleicht wollt ihr sie haben?
Bastian Lomsché: Klingt interessant! Vielen Dank für deine Zeit und das schöne Interview.