Bastian Lomsché im Interview mit Andreas Kriegenburg.
Andreas Kriegenburg ist in Magdeburg geboren und aufgewachsen. Seine Theaterkarriere begann als Modelltischler am Maxim-Gorki-Theater, dem heutigen Opernhaus. 1984 verließ er Magdeburg, seine Karriere als Regisseur und Bühnenbildner führte ihn an die bedeutendsten deutschsprachigen und europäischen Theater, brachte ihm zahlreiche Preise, Nominierungen und Einladungen zu Festivals ein. Nach vielen Jahren kehrt er zurück ans Schauspielhaus, um Shakespeares Timon von Athen zu inszenieren. Wir treffen uns für dieses Gespräch in einem Café am Domplatz, nebenan finden Proben für Love Never Dies statt, die unser Gespräch auf skurrile Weise mit Musicalnummern untermalen (zuweilen auch übertönen).
Andreas Kriegenburg (AK): Ich war hier 1975 zur 25-Jahr-Feier der DDR. Sämtliche Häuser waren kaputt und entkernt. Die Fassaden, die im Schwenkbereich der Kamera lagen, wurden an-
gemalt und die toten Fenster verglast. Aber man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Bäume, die in den entkernten Häusern gewachsen waren, zu fällen.
Bastian Lomsché (BL): Wie erlebst du die Stadt nach so vielen Jahren?
AK: Es ist zwar viel verschwunden, aber viel mehr ist auch wieder sichtbar geworden. Meine letzte Arbeit hier liegt viele Jahre zurück und ich bin erstaunt, dass Magdeburg nochmal extrem an Lebensqualität gewonnen hat. Es entsteht neue, sehenswerte Architektur, die große bürgerliche Tradition dieser Stadt wird wieder sichtbarer, das ist toll. Die Stadt hatte in meiner Kindheit immer das Stigma der geringen Lebensqualität, war immer die „dreckige Stadt Magdeburg“, weil sie über die Jahre des Sozialismus und der Schwermaschinenindustrie zugerußt wurde. Deshalb bin ich nicht nur bei euch am Theater sehr gerne und arbeite wahnsinnig gerne mit diesem tollen, jungen Ensemble, sondern bin auch als wiederkehrender Magdeburger sehr froh, dass dieses Stigma der schwarzen, verrußten Stadt abgewaschen ist.
BL: Wir haben uns mit Timon von Athen ein unbekanntes, selten gespieltes Stück Shakespeares ausgesucht. Der Literaturwissenschaftler Bernhard Sorg nennt es gar ein „sprödes Stück, nicht ohne Widersprüchlichkeiten, und von begrenzter Bühnenwirksamkeit“. Teilst du diese Einschätzung?
AK: Ja und nein. Es gibt keine schlüssige Dramaturgie. Die Lagerzuordnung ist schematisch, die Figurencharakterisierung einfach zu durchschauen, von scheinbar erzählerischer Naivität. Im Zentrum des Stückes gibt es ein absurdes Ereignis, einen Goldfund, bei dem sich Shakespeare nicht um Wahrscheinlichkeit oder Glaubwürdigkeit kümmert, sondern ein Vehikel einbaut, um ein bestimmtes Motiv zu transportieren. Das ist bei ihm, der sonst unglaublich raffiniert im Stricken seiner Geschichten ist, sehr ungewöhnlich. Die zu hohe Eindeutigkeit in der Figurenzeichnung Timons – von ausschließlich gut über die Enttäuschung zu ausschließlich böse – ist aber auch eine Form von Selbstradikalisierung, die in unserer Zeit wahnsinniges Echo auslöst. Wir spüren in unseren Proben, dass alle Figuren in ihrer Motivverstrickung sehr reich sein können, wenn man sich genau mit ihnen befasst. Insofern: Ja, sperrig, aber auf eine gute Weise.
BL: Timon durchlebt keine Entwicklung im klassischen Sinne, sondern wird quasi ad hoc vom Menschenfreund zum Menschenfeind. Worin liegt hier die inszenatorische Herausforderung?
AK: Timon ist eine höchst unwahrscheinliche Figur. Die Unbedingtheit, immer geben zu wollen, immer nur das Gute im Menschen zu sehen, ist ebenso unwahrscheinlich wie die spätere kompromisslose Verneinung aller Menschen, seine Abwendung von ihnen im völligen Hass. Es ist für einen Regisseur eine merkwürdige Aufgabe, das Publikum zu einer Figur zu führen, die liebenswert ist, nur damit sie einem dann mit großer Wucht gegen das Schienbein tritt. Das macht Spaß und Angst zugleich.
BL: Du hast auf den Proben Timon als „kindlichen Charakter“ beschrieben. Was meinst du damit?
AK: Dass er nicht differenziert. Dass er fähig ist, die Menschen grundsätzlich für gut zu halten. Dass er in seiner Weltwahrnehmung immer daran glaubt, dass man das Schöne finden oder wenigstens aus dem Hässlichen das Schöne machen kann. Shakespeares Timon war immer reich. Er beschreibt das zwar auch als Last, aber er musste sein inneres Kinderzimmer nie verlassen, musste es auch nie selbst aufräumen. Insofern hatte er nie die Möglichkeit, sich an Störung, an Provokation, an Behinderungen zu reiben und seine Persönlichkeit zu entwickeln. Er läuft wie ein Kind mit offenen Armen auf fremde Menschen zu und kann sich nicht vorstellen, dass das Gegenüber etwas verbirgt, ihn belügt oder ausnutzt. Eine kindliche Seele, die sich dann auf nicht erwachsene Weise ins Gegenteil radikalisiert. Es findet keinerlei Differenzierung statt.
BL: Du zeigst im ersten Teil eine sich vertraute Salongesellschaft. Mit welchen Charakteren bekommen wir es zu tun?
AK: Diese Gesellschaft ist im Grunde eine Elite-Bubble. Nicht nur, was ihren Reichtum betrifft, sondern auch ihre Bildung, sowohl die akademische als auch die kulturelle. Im Grunde die oberste Schicht der Gesellschaft, die sich selbst als elitär wahrnimmt und gleichzeitig in der Verfeinerung der Sinne trainiert ist. Wir sehen eine Gesellschaft, die an unserem Abend sehr jung sein wird, die permanent darauf bedacht ist, sich selbst zu vermarkten, sich darzustellen, sich zu optimieren.
BL: Andrea Schraad, die Kostümbildnerin des Abends, hat die Figuren heutig ausgestattet. Du pflegst eine sehr lange und intensive Zusammenarbeit mit ihr. Welche Rolle spielt sie für dich und dein Theater?
AK: Andrea ist als Kostümbildnerin unglaublich versiert, was Schnitte, Materialen, aber auch was die Wahrnehmung der Menschen, auf der Bühne, betrifft. Das ist die handwerkliche Komponente. Auf der anderen Seite versteht sie sich als Künstlerin, das heißt, sie kreiert Kostümbilder, die ein ganz wesentlicher Teil der Erzählung werden. Es ist nie illustrativ, es erklärt nie einen bestimmten Gedanken. Sie trägt ganz entscheidend dazu bei, dass eine Welt über die ästhetische Geschlossenheit dessen, was auf der Bühne geschieht, imaginiert werden kann. Was ich unheimlich an ihr schätze, ist ihre große Fantasie-Palette. Sie kann groteske, clowneske Sujets genauso ausstatten wie bürgerliche Eliten oder prekäre Milieus. In der Genauigkeit der Details und der Weltbeschreibung ist sie für mich die wichtigste Arbeitspartnerin.
BL: Du arbeitest, nicht zum ersten Mal, mit einer Shakespeare-Übersetzung von Frank-Patrick Steckel, einem der prägenden Regisseure, Intendanten und Übersetzer der letzten Jahrzehnte, der im Januar diesen Jahres verstorben ist.
AK: Ja, leider.
BL: Wodurch zeichnen sich seine Übersetzungen aus?
AK: Was ich an ihm schätze, ist die Gleichzeitigkeit von sprachlicher Originalität und unglaublicher Sorgfalt. Er ist in der Sprache sehr melodiös, er ist originell, ohne auf seine eigene Originalität oder die Modernisierung des Stoffes zu verweisen. Und er
ist, was den Umgang mit Versen betrifft, was den Respekt vor dem Original betrifft, sehr akribisch.
BL: In Magdeburg begann deine Theaterlaufbahn und führt dich nun, mit 60 Jahren, erneut in die Stadt zurück. Zeit für ein Zwischenfazit: Welche Stationen auf diesem Weg waren für dich besonders prägend?
AK: Die Jahre, die ich als junger Regisseur an der Berliner Volksbühne verbracht habe, waren für mich die wichtigsten Lehrjahre. In dieser Zeit musste ich lernen, mich in der eigenen Fantasie zu entgrenzen, mich in der Fantasie rücksichtloser zu machen, zu radikalisieren. Darüber hinaus war die Zeit am Thalia Theater in Hamburg eine Zeit, die all das, was man sich als Theatermacher wünscht – was das Ensemble betrifft, was die Bezüglichkeit der Arbeiten zu anderen Regisseur:innen betrifft, was die Leidenschaft, die an einem Haus entstehen kann, betrifft – unglaublich wichtig. Und natürlich war die enge Verbindung zu den Kammerspielen in München etwas, das mich in meiner Entwicklung sehr geprägt hat. Dort sind für mich einige meiner wichtigsten Arbeiten entstanden – ohne andere Häuser zurücksetzen zu wollen.
BL: Das Theater hat sich in dieser Zeit mehrmals verändert. Blickst du wehmütig zurück und wie bewertest du das Theater aktuell?
AK: Ich glaube, es gibt fast keine Regisseur:innen in meinem Alter, die nicht wehmütig zurückblicken. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun, früher war nicht alles besser. Ich merke aber, dass ich mit bestimmten Entwicklungen der Erzählmethoden – ich will nicht sagen, nicht mehr mithalten kann – aber dass sie sich von mir ablösen. Ich sehe Abende, die mich beeindrucken und berühren, aber die Mittel, die dort benutzt werden, bis hin zu den Themen, die verhandelt werden, sind so neu, so frisch und mir so fremd, dass ich eine Wehmut darüber entwickle und sagen muss: Das werde ich nicht mehr lernen, das kann ich nicht mehr in mein Repertoire aufsaugen. Die Bühnen entwickeln sich stärker in Richtung einer dokumentarischen Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Das löst sich in gewissen Punkten von mir als klassischem Geschichtenerzähler ab.
BL: Würdest du dich als ostdeutschen Regisseur beschreiben?
AK: Was die letzten 15, 20 Jahre betrifft, ist bei mir die Selbstwahrnehmung als „Ossi“ verschwunden.
In den ersten 20 Jahren meiner Laufbahn war es so, dass ich die Sozialisierung in der DDR für mich als Vorteil empfunden habe. Ich war darin trainiert, Texte anders zu lesen, das Theater als Ort der politischen Auseinandersetzung wahrzunehmen und mit dem jeweiligen Publikum eine Art Geheimsprache zu entwickeln. Wir hatten in der DDR das absurde Privileg, uns sehr schnell und einfach als politisch denkende und politisch agierende Künstler:innen zu erleben. Das ist etwas, das ich in den ersten Arbeiten stark verinnerlicht und in die Ensembles getragen habe: Dass Theater eine sehr starke Verwobenheit mit der Gesellschaft haben kann, auch was die Auseinandersetzung mit politischen Prozessen betrifft.
BL: Du arbeitest in der erster Probenphase sehr genau mit dem Ensemble, nahezu jeder Satz wird abgeklopft, jede Haltung besprochen. Wie hat sich dein Inszenierungsstil über die Jahre entwickelt?
AK: Zu Beginn war das gar nicht so. Das ist ein Reifeprozess, in dem man die Oberflächen von Stücken immer mehr zu durchdringen versucht, immer mehr in die Tiefen der Figuren geht. Als junger Regisseur war ich viel mehr an spektakulären Oberflächen interessiert.
BL: Gibt es Träume, die du im Theater gerne verwirklichen möchtest?
AK: Ich habe immer noch den Traum, Kräfte zu
bündeln. Ich bin über die Jahre sehr vielen Künstler:innen begegnet und mich begleitet der Wunsch, einmal einen Teil von ihnen an einem Ort zu versammeln. Auf der anderen Seite gibt es in mir einen relativ großen Bereich an Literatur, den ich auf der Bühne sehen möchte. Die düsteren Stücke von Christian Dietrich Grabbe, Texte von Giannis Ritsos, Shakespeares Sonette, bei denen ich aber weiß: Das verkauft sich nicht.
BL: Wenn du dem Theater im Allgemeinen etwas wünschen dürftest, was wäre das?
AK: Publikum, ganz klar. Das Theater muss es schaffen, Inszenierungen zu verwirklichen, die einen wie auch immer gestalteten, emotionalen Sog entwickeln. Die Menschen müssen dazu eingeladen werden, sich mitziehen, mitreißen, mitwirbeln zu lassen. Grundsätzlich wünsche ich uns allen, dass die Leidenschaft, sich mit anderen gemeinsam dem Moment der Emotionalisierung auszusetzen, bleibt. Dass es bleibt, dass ich mir sage: Ich gehe gerne das Risiko ein, neben einem mir völlig fremden Menschen im Theater zu sitzen und mir die Seele aus dem Leib zu heulen.
BL: Wir haben für nächste Spielzeit das Motto „Hoffnung“ ausgegeben. Was macht dir Hoffnung?
AK: Ich finde das eine schwierig zu beantwortende Frage. Einerseits kann ich sagen, dass ich dankbar dafür bin, dass Menschen immer wieder zusammenkommen, kreativ sind, Intimität und Verletzlichkeit zulassen und dass mir das Hoffnung macht. Aber eigentlich muss man die Frage umdrehen: Inwieweit sieht man sich selber noch dazu in der Lage, Hoffnung zu geben? Inwieweit bin ich, was Arbeitsprozesse, was soziale Prozesse, was Diskussionen, was gesellschaftliche Entwicklungen betrifft, in der Lage, anderen Hoffnung zu geben oder eine harmonische oder soziale Vernetzung zu erleben? Ich glaube, es ist wichtig, sich immer wieder aufzuerlegen und in sich wachzurufen, dass man selbst Teil dieser Möglichkeit auf Hoffnung ist. Wie viel kann man selbst an Offenheit, Freundlichkeit, Kompromissbereitschaft, Liebe anbieten?
BL: Was möchtest du dem Publikum noch mitgeben?
AK: Ich habe große Freude an der Wiederbegegnung mit dem Haus, an der Begegnung mit dem Ensemble und hoffe natürlich auf eine nächste Arbeit (lacht).
BL: Vielen Dank für das Interview.